Snapchat #4: reflektieren

Screenshot von www.dbatsnap.com

Screenshot von www.dbatsnap.com

Zum Abschluss unserer Snapchat-Reihe reflektieren wir heute, inwiefern sich die App für die Medienpädagogik, Bildung und Erziehung eignet, und welche neuen Einsatzmöglichkeiten und Projektideen es hierfür gibt. Dabei werden wir aber auch kritisch analysieren, welche positiven und negativen Aspekte zu beachten sind.
Nachdem wir uns in den vorherigen Artikeln mit den Grundlagen von Snapchat, innovativen Usern und Produktions-Tipps beschäftigt haben, werden wir im vierten Teil ein Resümee ziehen und Anregungen für den Praxiseinsatz liefern.

Zuvor müssen wir jedoch zugestehen, dass selbst eine Blog-Artikelreihe zu langsam für die schnelllebigen Entwicklungen in der Medienbranche sein kann: Letzten Dienstag erschien morgens unser Artikel zum Erstellen von Snaps und Stories, und am Nachmittag veröffentlichte Snapchat ein umfangreiches Update, das unsere Ausführungen sprichwörtlich alt aussehen ließ. Das Update wurde im firmeneigenen Snapchat-Blog als “Chat 2.0” beschrieben, was bereits auf die Bedeutung und das Ausmaß hinweist. Die Medienberichte überschlugen sich daraufhin, beispielsweise titelte Spiegel Online: “Snapchat greift Facebook und WhatsApp an”. In der Tat wurde durch das Update die Messenger-Funktion von Snapchat erheblich erweitert, nun sind auch Video- und Audio-Nachrichten sowie -Anrufe möglich, zudem gibt es umfangreiche Sticker zum Illustrieren eines Chats. Auch die Abspielfunktion der Stories wurde  vereinfacht. Von der Community wurden diese Änderungen durchweg positiv aufgenommen – eine Reaktion, die heutzutage keineswegs selbstverständlich ist.

Potentiale von Snapchat

Sehen wir uns nun die neuen Chancen und Möglichkeiten an, die dieser Dienst für die Arbeit im pädagogischen Kontext mit sich bringt. Dazu ist zunächst grundlegend zu sagen (bzw. zu wiederholen), dass Snapchat zahlreiche neue Möglichkeiten eröffnet, weil es den Mut besitzt, unkonventionell zu sein und alle derzeit etablierten Gewohnheiten über Bord zu werfen. Die Nutzung und Veröffentlichung im Hoch- statt Querformat ist nur ein Beispiel dafür (denn obwohl es auch möglich ist, Fotos und Videos im Querformat aufzunehmen und anzusehen, wird überwiegend in Hochformat produziert).
Zugleich greift der Dienst natürlich die bekannten Bedürfnisse der User auf, er bietet eine Plattform zur Selbstdarstellung ebenso wie einen Smartphone-Messenger, und reichert das Ganze mit Stickern, Bildchen und Videos an. In der Art und Weise, wie Snapchat vorgegebene Filter und Effekte mit Eigenkreationen vermischen lässt, eröffnet der Dienst aber neue kreative Möglichkeiten. (Einen kleinen Einblick in die künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten mit dieser App liefert der obige Screenshot von Dasha Battelle, einer Künstlerin, die mittlerweile für Snapchat arbeitet.)

Um dieses Potential zu nutzen und die App sinnvoll in pädagogische Aktivitäten einzubinden, haben wir einige Anregungen zusammengestellt, die wir mit einem Video-Zusammenschnitt gelungener Snapchat-Stories illustrieren:

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Folgende Ideen lassen sich aus den Videobeispielen ableiten:

  • 1 | a new video art
    Möglicherweise wird Snapchat unsere Video-Sehgewohnheiten verändern, wie das zuvor MTV und später YouTube getan haben. Neue Medienportale kreieren einen neuen Look, der sich etabliert und später als wegweisend und stilbildend wahrgenommen wird. Einer der prominentesten Vertreter bzw. Gestalter der Snapchat-Optik ist derzeit Shonduras, den wir als erstes Beispiel im Video zeigen und der sich hervorragend als Beispiel für die kreative Videoarbeit mit Snapchat eignet.
  • 2 | Gamification-Ansätze
    Durch Chat-Kommentare sowie den Rückkanal mittels Screenshots lassen sich Spiele gestalten, die bereits vielfach zu beobachten sind. Dazu ist zu wissen, dass die Produzenten einer Story angezeigt bekommen, wie viele Screenshots von einem Snap gemacht wurden. So lassen sich z.B. Abstimmungen durchführen, bei denen sich die Option als gewählt herausstellt, von der die meisten Screenshots gemacht wurden. Auch Rätsel oder Suchspiele lassen sich so aufbauen. Im Videobeispiel (ab Min. 1:17) sehen wir einen etwas anderen Ansatz: CyreneQ hat Plüschtiere in ihren Videos versteckt und fordert zum Suchen auf. Die Auflösung zeigt CyreneQ anschließend selbst.
  • 3 | Rollenspiele
    Die täglich variierenden Filter, die sich via Selfie-Kamera direkt auf das eigene Gesicht projizieren lassen (ähnlich wie bei der ebenfalls sehr populären App MSQRD), eröffnen spielerische Freiräume für Rollenspiele unterschiedlicher Art. Im Video zeigen wir ein Beispiel des Comedians Phil Laude, ehem. YTITTY-Mitglied, der etwas planlos mit verschiedenen Filtern herumalbert (ab Min. 2:18). Bei intensiverer Auseinandersetzung mit den Filtern lassen sich auch komplexere Stories erzählen.
  • 4 | Storytelling
    Wie sich mit Snapchat neue Storytelling-Formate gestalten lassen, sehen wir in zwei Beispielen von professionellen Medienmachern: Daniel Bröckerhoff arbeitet als Journalist und moderiert derzeit die Nachrichtensendung “heute+”, er gewährt bei Snapchat regelmäßig Einblicke in seinen Arbeitsalltag und lässt hinter die Kulissen kucken. So dokumentiert er anschaulich, was sonst nicht in der Sendung zu sehen ist (ab Min. 3:00).
    Das zweite Beispiel stammt vom Portal chip.de (ab Min. 6:10) und zeigt eine klassische Fotostrecke, die so ähnlich auch auf der Chip-Website zu sehen sein könnte, die hier aber Snapchat-adäquat aufbereitet wurde.
  • 5 | Listen, Thesen, Aufzählungen
    Eigentlich nichts Neues: Wir kennen die Top-Five-Listen aus “High Fidelity”, die Aufzählungs-Artikel von Portalen wie Buzzfeed usw., aber mit Snapchat lassen sich Auflistungen nochmal neu darstellen. Im Video liefert Marcus Flatten von der Agentur Mann beißt Hund ein schönes Beispiel mit zehn Thesen zu Snapchat, die er für den “Berliner Stammtisch Wissenschaftskommunikation” zusammengestellt hat (ab Min. 6:54).

Das ist nur eine kurze Liste mit Ideen, die sich beliebig fortsetzen ließe. Drei andere anregende Quellen möchten wir noch vorstellen: Unter A Teacher’s Guide to Snapchat findet sich, wie der Name schon sagt, ein kleiner Leitfaden für Lehrkräfte. Im Blog Zeit zu teilen hat sich Sabine Depew Gedanken über die Potentiale für Bildung und Erziehung gemacht. Und im Snap-Science-Tumblr werden Beispiele für Snapchat in der Wissenschaft gesammelt.

Doch wir möchten auch Ihnen, werte Leserinnen und Leser, noch kreativen Freiraum lassen, und freuen uns über weitere Vorschläge in den Kommentaren.

Kritik an Snapchat

Abschließend möchten wir noch einige kritische Blicke auf den Dienst werfen und dabei auch auf einige Fragen eingehen, die uns in den letzten Wochen erreicht haben.

  • Zur Kurzlebigkeit der gesendeten Botschaften wurde gefragt, ob daraus nicht das Gefühl resultiert, etwas zu verpassen, wenn ich nicht “always on” bin. Zweifelsohne ist dieser Druck vorhanden: Wenn meine Stars etwas posten, habe ich  nur 24 Stunden Zeit, diese Nachrichten zu sehen, also muss ich mindestens einmal täglich in der App nach Neuigkeiten sehen. Doch ist diese Zeitspanne mit Blick auf die heutigen Mediennutzungsgewohnheiten v.a. Jüngerer User keine Seltenheit, die meisten häufig genutzten Dienste werden mindestens einmal täglich geöffnet. Wir könnten das auch mit dem täglichen Zeitungslesen oder den Abendnachrichten vergleichen, also ist der Speicherzeitraum mit 24 Stunden wohl durchaus angemessen. Dennoch ist der Einwand angebracht, dass durch derartige technischen Entwicklungen der Druck auf die User und die sog. “fear of missing out” (also die Angst, etwas zu verpassen, wenn ich offline bin) zunimmt. Diese Entwicklung ist seit Jahren zu beobachten.
  • Eine andere Frage ist, ob die Chat-Dateien nach dem Anzeigen bzw. die Stories nach 24 Stunden wirklich gelöscht werden oder ob auf Snapchat-Servern eine Kopie gespeichert bleibt. Hier können wir nur mutmaßen: Die Firma beteuert, dass die Dateien tatsächlich gelöscht werden, aber ob Sie dieser Zusage vertrauen möchten oder ob Sie aufgrund des bestehenden kommerziellen Interesses (oder auch aufgrund bekannt gewordener Kooperationen zwischen US-Medienanbietern und -Geheimdiensten) skeptisch sind, überlassen wir Ihnen. Eine Anmerkung dazu von technischer Seite: Snapchat erreicht derzeit wohl rund acht Milliarden Video-Views pro Tag und käme damit auf die gleiche Anzahl wie der (deutlich größere) Anbieter Facebook. Für ein vergleichsweise junges Unternehmen ist es eine gigantische und teure Aufgabe, alle veröffentlichten Texte, Audios, Fotos und Videos dauerhaft zu speichern – auszuschließen ist es dennoch nicht.
  • Snapchat ist das geschlossenste System, das in dieser Breite erfolgreich ist, das es bislang gab. Selbst primär als Apps wahrgenommene “Internet-Dienste” wie Instagram haben eine Entsprechung im offenen Web, wo zumindest die fertigen Produkte und Profile angesehen werden können. All das gibt es bei Snapchat nicht. Der einzige Weg, an den user-generated-content zu kommen, ist die App selbst – womit alle Personen ohne Android oder iOS per se ausgeschlossen sind. Im Sinne eines offenen Netzes, plattformunabhängiger Zugänge uvm. kann man dies nur verurteilen, und es kann bei weiterer Verbreitung noch zu einem echten Problem werden. Gleichzeitig scheint dies für viele User kein Thema zu sein – diese Kritik ist uns in den vielen Wochen der Recherche nicht einmal untergekommen.
  • Auch die Frage nach Datenschutz stellt sich bei Snapchat natürlich neu: Wir stehen hier vor der gleichen Problematik wie bei allen anderen US-Anbietern, wir geben die über diese Dienste verschickten Daten aus der Hand und können vorerst nur abwarten, wie das neue Datenschutzabkommen zwischen der EU und den USA aussieht, über das derzeit noch verhandelt wird.
  • Ähnlich sieht es beim Jugendschutz aus: Laut AGB sieht Snapchat ein Mindestalter von 13 Jahren vor, überprüft das jedoch nicht, so dass Falschangaben jüngerer User nicht bemerkt werden. Somit kann sich prinzipiell jedes Kind Zugang zu den hier geposteten Inhalten verschaffen (ebenso wie bei Instagram, Facebook, YouTube und Co.). Bislang sind jedoch keine Skandale bzgl. gewalthaltiger oder pornographischer Inhalte bekannt. Von seinem Ruf, eine App für Nacktaufnahmen und Sexting-Inhalte zu sein, hat sich Snapchat jedenfalls weit entfernt.
  • Zu guter Letzt noch die Anmerkung eines Kollegen, der pädagogische Fachkräfte zur Zurückhaltung mahnt mit dem Argument: “Sobald noch mehr von uns da sind, verliert es doch seinen coolen Touch ;-)” Das ist einerseits natürlich richtig, andererseits ist es jedoch gerade in der Medienpädagogik wichtig, über neue Entwicklungen und Angebote auf dem Laufenden zu sein und gerade die populären Dienste auch “von innen” zu kennen. Deshalb halten wir eine pädagogisch motivierte Beschäftigung mit Snapchat für dringend erforderlich, zumal wir hier gut getrennt von der jugendlichen Kernzielgruppe kommunizieren können. Wir können (anders als in anderen Diensten) nicht einfach nach Klarnamen suchen, sondern müssen den Snapcode scannen oder den konkreten Username einer Person wissen, um ihre Inhalte zu sehen. Außerdem kann ich einstellen, ob andere User, mit denen ich nicht befreundet bin, meine Stories sehen dürfen – ich kann also unerwünschte Fremde einfach ausschließen.

Was bleibt?

Nachdem wir uns nun vier Wochen lang intensiv mit Snapchat beschäftigt haben, bleibt für uns das etwas überraschende Zwischenfazit, dass es noch immer viel zu berichten gäbe. Je intensiver wir uns mit dem Dienst beschäftigen, umso mehr spannende Entdeckungen machen wir. Auch waren wir überrascht, wie von einem anfänglich deutlich beruflich motivierten Interesse ein unerwarteter Spaß und auch neue Kommunikationsformen ins Private hinein entstanden sind – Snapchat funktioniert, das kann man nicht anders sagen.

Der Hype um Snapchat ist derzeit unwahrscheinlich groß, wie die zahlreichen Links und Hinweise zeigen, die wir in den Artikeln gepostet haben. Zahllose Bereiche (von Marketing über Journalismus bis zur Wissenschaft) haben diese App entdeckt und versuchen nun, möglichst früh dabei zu sein und eine möglicherweise wichtige Entwicklung nicht zu verschlafen.

So erging es auch uns und Ihnen, die Sie diese vier Artikel regelmäßig verfolgt haben. Wir hoffen, Ihnen anregende Informationen geliefert zu haben und Sie zu einem neugierigen, aufgeschlossenen und zugleich gesund-skeptischen Umgang mit Snapchat angeregt zu haben. Für die weitere Kommunikation und Diskussion schreiben Sie uns einfach einen Kommentar.

Für uns ist die Reise noch lange nicht zu Ende, wir brüten gerade an einer weiteren Idee, die wir aber frühestens in einigen Wochen verraten können. Bleiben Sie also neugierig – wir freuen uns auf spannende Snaps und Stories von und mit Ihnen!

Daniel Seitz Kurzbio
lebt in Berlin, hat Mediale Pfade gegründet und brennt für eine freie, politisierte Gesellschaft, die ihre Verantwortung wahrnimmt. Als Medienpädagoge ist er überzeugt, dass Medienbildung einen wichtigen gesellschaftlichen Anteil zu politischer Teilhabe, Selbstentfaltung und Kreativität leisten kann.
Björn Friedrich Kurzbio
Björn Friedrich arbeitet als Medienpädagoge im SIN - Studio im Netz, München, mit den Schwerpunkten Social Media, Games und Jugendpartizipation. Daneben ist er als Referent für Vorträge und Fortbildungen tätig. Mit Tobias Albers-Heinemann schrieb er mehrere Elternratgeber, zuletzt 2018 "Das Elternbuch zu WhatsApp, YouTube, Instagram & Co." (O'Reilly Verlag, Köln). Mit Michael Dietrich und Sebastian Ring veröffentlichte er 2020 den Sammelband "Medien bilden Werte. Digitalisierung als pädagogische Aufgabe" (kopaed, München).
Verfasst am 05.04.2016
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