BeReal – Banalitäten im Social Web

Screenshot von Google Play Store / BeReal

Der Vorwurf, auf Social-Media-Portalen wie Instagram würde eine perfekte Scheinwelt anstatt dem alltäglichen Leben abgebildet, ist altbekannt und nicht von der Hand zu weisen. Das Gebaren zahlreicher Influencer*innen, die das Web in ein großes Werbeportal verwandeln, trägt einen enormen Teil dazu bei und färbt unweigerlich auf uns User*innen ab. Der Dienst BeReal unternimmt den Versuch, mit spontanen Schnappschüssen den banalen Alltag einzufangen, und hat damit einen kleinen Hype ausgelöst. Wir beleuchten die Frage, was sich daraus für die Medienpädagogik ableiten lässt.

Das Prinzip von BeReal ist simpel: Die App sendet ihren User*innen einmal täglich eine Pushnachricht mit der Bitte, just in diesem Moment ein Foto aufzunehmen und zu veröffentlichen. Dabei arbeitet die App mit beiden Handykameras: Die Rückkamera hält das erlebte Geschehen fest, kurz darauf wird mit der Frontkamera ein Selfie geknipst. Beide Bilder werden ineinander montiert und dann veröffentlicht. Das Posting muss innerhalb von zwei Minuten online sein, spätere Postings werden mit dem Hinweis der Verspätung versehen. Ob das Foto für die gesamte Community oder nur für eigene Freund*innen sichtbar sein soll, kann für jedes Posting einzeln ausgewählt werden.

Dieses Prinzip der Egoperspektive führt dazu, dass die bei BeReal veröffentlichten Foto viele Beine zeigen (von Menschen, die im Bett liegen oder im Wartezimmer sitzen), viele Schreibtische und Panoramen, manchmal auch Haustiere, Esstische, Konzertbühnen, Bibliotheksgänge u.ä. Die Darstellung des Alltäglichen ist in unterschiedlichen Varianten zu finden, aber interessanterweise wird schnell deutlich, dass der Alltag der meisten Menschen eben nicht in Luxusvillen oder an Traumstränden stattfindet, sondern oft auch langweilig und trist aussieht. Der Name „be real“ ist tatsächlich Programm.

Ein witziges Zusatz-Feature ist, dass Beiträge mit „RealEmojis“ kommentiert werden können: Anstatt nur ein Emoji anzuklicken, lässt sich ein Selfie aufnehmen, das (zusammen mit einem Emoji) als Reaktion gepostet wird. Außerdem sind die Fotos aus der Community erst dann sichtbar, wenn man selbst ein aktuelles Foto gepostet hat.

Was bedeutet das für die Medienpädagogik?

Der Reiz von BeReal liegt in meinen Augen darin, dass es einen einfallsreichen, gelungenen Gegenentwurf zu den etablierten Social-Media-Diensten darstellt. Anstatt aufwendig inszenierter Hochglanzfotos und -videos sind hier Schnappschüsse gefragt, die innerhalb von zwei Minuten geknipst und gepostet werden müssen, ohne vorher mit Filtern und Effekten bearbeitet zu werden. Wir können das Konzept von BeReal also hervorragend nutzen, um (wieder einmal, aber aus einer neuen Perspektive) die Mechanismen des Social Web zu hinterfragen und die Diskussion über Authentizität vs. Inszenierung aufzugreifen.

Zugleich muss natürlich kritisch hinterfragt werden, wie real die hier veröffentlichten Fotos tatsächlich sind und was die Push-Benachrichtigung für das eigene Nutzungsverhalten bedeutet: In welchen Situationen werden Fotos geknipst, wann wird die Aufforderung besser ignoriert? Was bedeutet der Schnappschuss für meine Mitmenschen und mein Umfeld? Was muss mit Blick auf Urheber- und Persönlichkeitsrechte beachtet werden?

Aus Sicht von jugendschutz.net sind nicht nur unüberlegte Postings ein Problem, sondern auch die Standortfreigabe, die sich die App erbittet und dann erst wieder deaktiviert werden muss.

Wohlwollend betrachtet kann BeReal vielleicht neue Formen der Kreativität befördern: Während die Darstellungs- und Bearbeitungsformen von Instagram & Co. bereits weitverbreitet sind, stellt uns der Zeitdruck dieser App vor die Herausforderung, spontan zu sein und dennoch sehenswerte Fotos zu präsentieren. In welcher Situation sich welche Motive aufdrängen und wie diese gezeigt werden, ist durchaus interessant zu beobachten und kann stets neue Anregungen liefern.

(BeReal-Beispielfotos)

Hat diese Idee eine Zukunft?

Die entscheidende Frage bei neuen Angeboten im Social Web ist immer, ob diese nur ein kurzer Hype sein werden, der schnell verschwindet, oder ob sie sich etablieren können. Auch das Verhalten der Konkurrenz ist ein wichtiger Faktor, der das Fortbestehen entscheidend beeinflussen kann.

BeReal wurde 2019 in Frankreich gestartet und konnte in diesem Sommer seine bislang größte Popularität genießen: Die Downloadzahlen waren enorm hoch, im August wurden 10 Mio. täglich aktive User*innen gezählt. Das ist beachtlich, aber natürlich weit entfernt von den großen Playern. Zudem gibt es bereits kritische Stimmen (wie hier bei Vice), die der Meinung sind, dass das inhaltliche Konzept dauerhaft zu eintönig ist.

Die Konkurrenz schläft indes nicht: Instagram arbeitet angeblich an einer Funktion namens „IG Candid Challenges“, die frappierend an BeReal erinnert, und weitere Dienste werden sicher bald nachziehen. Insgesamt ist fraglich, ob sich das Social Web stärker in Richtung Bewegtbild entwickelt (wofür die Popularität von TikTok spricht) oder ob reine Fotoanwendungen weiterhin populär bleiben können.

Zudem macht „ein einziges Feature noch kein soziales Netzwerk“, wie bei Capital treffend formuliert wird, langfristig müssten sich die Anbieter noch mehr einfallen lassen, um erfolgreich bleiben zu können. Diesem Punkt kann ich mich nur anschließen: Zwar zähle ich rein alterstechnisch nicht zur Kernzielgruppe, bin aber auch der Ansicht, dass die bisherige Funktionalität dauerhaft zu wenig Abwechslung und Attraktivität generieren wird.

Wer weiß, vielleicht fällt den Macher*innen noch mehr Spannendes ein. Vielleicht wird BeReal auch bald aufgekauft, vielleicht werden alle Ideen wieder schamlos adaptiert, um das Original zu zerstören (vgl. Snapchat). In jedem Fall bleibt festzuhalten, dass hier eine originelle Idee umgesetzt wurde, die uns auch für die medienpädagogische Arbeit neue Impulse liefert.

Björn Friedrich Kurzbio
Björn Friedrich arbeitet als Medienpädagoge im SIN - Studio im Netz, München, mit den Schwerpunkten Social Media, Games und Jugendpartizipation. Daneben ist er als Referent für Vorträge und Fortbildungen tätig. Mit Tobias Albers-Heinemann schrieb er mehrere Elternratgeber, zuletzt 2018 "Das Elternbuch zu WhatsApp, YouTube, Instagram & Co." (O'Reilly Verlag, Köln). Mit Michael Dietrich und Sebastian Ring veröffentlichte er 2020 den Sammelband "Medien bilden Werte. Digitalisierung als pädagogische Aufgabe" (kopaed, München).
Verfasst am 06.09.2022
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