Choose Your Own Adventure Teil 1

Interaktive Geschichten schreiben

Das Open Source Programm Twine 2 dient der Erstellung nichtlinearer, interaktiver Texte an der Schnittstelle zwischen Videospiel und Literatur. Es kann in der medienpädagogischen Arbeit auf vielfältige Weise eingesetzt werden, etwa im Rahmen kreativer Schreibprojekte oder zur vertiefenden Auseinandersetzung mit beliebigen Themen, wie auch der Einführung in den Umgang mit HTML und CSS dienen.

Nichtlineare, verzweigte Texte, „Interactive Fiction“, bieten den LeserInnen verschiedene Navigationsmöglichkeiten durch den Text. Beispiele dafür sind die in den 1970er Jahren populären Textadventures wie ZORK oder Adventure, in denen man zwischen verschiedenen Wegen wählen konnte und etwa nach Eintippen von „go north“ oder „enter house“ eine Beschreibung der Umgebung und weiterer Handlungsmöglichkeiten erhielt. Die Hybridformen zwischen Text und Spiel wurden später von grafisch immer aufwändigeren Computerrollenspielen abgelöst.

Zur selben Zeit waren auch die dank ihrer Illustrationen attraktiveren „Fighting Fantasy Gamebooks“ verbreitet, die heute als Apps neu aufgelegt werden. Da hieß es etwa „Du biegst um die Ecke und stehst einem wütenden Ork gegenüber. Wenn du ihn angreifen willst, gehe zu Seite 35. Versuchst du zu flüchten, gehe zu Seite 17.“ Auf jeder Buchseite gab es mehrere Entscheidungsmöglichkeiten, viele führten zu einem jähen Ende der Hauptfigur. Durch die Reihe der „1000 Gefahren“-Bücher von Ravensburger sind nichtlineare Geschichten in gedruckter Form auch heute wieder populär. So bietet sich auch der Einsatz in der Medienpädagogik an – derartige Erzählungen, gedruckt oder digital, selbst zu entwickeln und anderen zum Spielen zur Verfügung zu stellen.

Vorwiegend im englischen Sprachraum gibt es nun eine aktive Szene im Bereich der Interactive Fiction, da die Herstellung und Veröffentlichung der Texte/Spiele mittlerweile kostenlos und ohne Programmierkenntnisse möglich ist. Viele Werke sind ebenfalls kostenlos. Die AutorInnen greifen Themen auf, um die kommerzielle Spielehersteller einen großen Bogen machen, etwa Depression in Depression Quest oder Homosexualität in dem minimalistischen Queers in Love at the End of the World. Als bisher längstes Werk gilt der Science Fiction-Roman Blue Lacuna von Aaron A. Reed. Einen Überblick zu Definitionen, Editoren und Sammlungen von Spielen bzw. Texten bieten das Interactive Fiction Wiki sowie die Interactive Fiction Database.

Ein populäres und komfortables Werkzeug zur Erstellung nichtlinearer Texte ist das Open Source Programm Twine, 2009 von Chris Klimas entwickelt und derzeit in der Version 2. Es kann sowohl auf allen gängigen Betriebssystemen installiert wie auch online genutzt werden, die Funktionalität ist identisch. Bei der Online-Nutzung werden die erzeugten Texte im Browser-Cache gespeichert; das ist einerseits komfortabel, weil kein eigenes Konto erstellt werden muss, andererseits gehen durch ein Leeren des Caches sämtliche Twine-Dokumente verloren. Daher ist es empfehlenswert, die Texte regelmäßig über die entsprechende Option auf der Twine-Startseite zu archivieren, oder gleich die Desktop-Version zu nutzen. In der aktuellen Form ist die Programmoberfläche auch in deutscher Sprache verfügbar. Das Programm benötigt nur wenige Ressourcen und läuft im Browser auch auf mobilen Geräten. Da Twine HTML-Code erkennt und einen integrierten Stylesheet-Editor mitbringt, eignet es sich auch als Einführung in die Gestaltung von Webseiten.

Ein weiterer Vorteil von Twine ist die Möglichkeit, erstellte Spiele sofort kostenlos auf der Plattform Philomela zu veröffentlichen, wofür ein Twitter-Account notwendig ist. Die Spiele sind dann, wenn gewünscht, auf Twitter unter @philomela_twine oder unter einem Direktlink zu finden. Einige der interessantesten mit Twine erstellten Spiele sind hier beschrieben.

Erste Schritte

Beim Start des Programms befindet man sich zunächst auf dem mit einem Raster unterlegten Hauptbildschirm. Die Textabschnitte, „Passagen“ genannt, stehen in einzelnen Kästchen, die durch Pfeile miteinander verbunden sind. Durch Doppelklick werden die Passagen geöffnet und können editiert werden. Von jedem Textabschnitt kann zu einem oder mehreren anderen Abschnitten verlinkt werden. Die Oberfläche ist übersichtlich gestaltet, das Auffinden „verwaister“ Textkästchen ohne Links fällt leicht.

Durch das Einschließen eines Wortes oder einer Phrase in [[doppelte eckige Klammern]] wird eine neue Textpassage erzeugt und ein Link zu dieser hergestellt. Der Klick auf den Text „[[Gehe ins Schloss]]“ würde also zu einer neuen Passage namens „Gehe ins Schloss“ führen. Soll die neue Passage anders als der Linktext heißen, muss in den Link eine Trennlinie | eingeführt werden: „[[Gehe ins Schloss|Schloss]]“ führt dann zur Passage „Schloss“.

Allein durch diese Verlinkungsfunktion können bereits sehr spannende Werke entstehen, etwa mein Lieblingsbeispiel der Hypertextliteratur, Metrolith von Porpentine. Diese an die Werke H.P. Lovecrafts erinnernde Reise durch eine verlassene, verfallene Metropole kann aus der Perspektive mehrerer Personen gespielt/gelesen werden, deren Geschichten einander überschneiden. Erst nach mehrmaligem Lesen erschließt sich nach und nach die gesamte Handlung.

Einsatz im Unterricht

Nutzt man nur die Verlinkungsfunktion, ist der Zugang sehr einfach, und Twine eignet sich bereits für kurze kreative Schreibprojekte ab etwa einer Stunde. Einige ausgearbeitete Konzepte für den Einsatz im Unterricht sind auf Educade.org zu finden:

  • Reales Szenario erforschen: Die SchülerInnen sammeln Ideen zu Themen, die verschiedene Entscheidungswege ermöglichen, zB aus dem Umweltbereich, oder auch ein historisches Thema. Dann werden die möglichen Optionen und deren Konsequenzen recherchiert. Am Ende steht das Verfassen eines interaktiven Textes aus der Sicht einer Hauptperson, in den die Ergebnisse der Recherche einfließen können.
  • Analyse literarischer Texte: Nach der Lektüre eines Romans wird die Handlung in mehreren kurzen Absätzen zusammengefasst und diese als Twine-Passagen angelegt. Dazu werden dann mehrere Fragen gestellt: Können die Elemente der Handlung anders arrangiert werden, also in anderer Reihenfolge ablaufen? Wo liegen die Wendepunkte der Handlung, an denen den ProtagonistInnen verschiedene Entscheidungen offen stehen? Schließlich sollen die SchülerInnen diese alternativen Handlungsmöglichkeiten als Verzweigungen im Text anlegen und so erforschen, welchen anderen Verlauf die Geschichte hätte nehmen können.
  • Erstellen eines interaktiven „Abenteuerbuches“(Choose Your Own Adventure): SchülerInnen entwickeln Ideen für eigene interaktive Geschichten und überlegen, wie sich diese in Twine umsetzen lassen und wie der interaktive Charakter einer Geschichte die Erzählstruktur beeinflusst. Abhängig von den Entscheidungen der LeserInnen sollen mehrere Enden möglich sein.

Im zweiten Teil werde ich weitere Ideen zum Einsatz von Twine sowie einige Gestaltungsmöglichkeiten vorstellen.

Christoph Kaindel Kurzbio
Jahrgang 1966, ist Historiker, Medienpädagoge, Grafiker und Cartoonist und lebt in Gablitz bei Wien. Er war lange beim Wiener Bildungsserver tätig und ist nun selbständiger Vortragender. Als begeisterter Gamer - seit den 80er Jahren - interessiert er sich für alle Aspekte von Videospielen. Seit einigen Jahren beschäftigt er sich mit der Entwicklung von Games in der praktischen Medienarbeit. Gelegentlich arbeitet er als Zombiefilm-Coach oder Kampfchoreograf.
Verfasst am 11.10.2016
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